„Sie haben einen Herzinfarkt!“, diese Diagnose hat Konjunktur. Das hat seine Gründe, und es hat System.
Es muss etwas ausgeholt werden:
Bis weit in neunziger Jahre beruhte die Diagnose eines Herzinfarkts auf folgenden drei Kriterien:
Erstens: Auf den Beschwerden des Patienten, also Brustschmerzen, zum Teil mit Ausstrahlung in den linken Arm.
Zweitens: Auf dem EKG. Es gibt definierte beweisende EKG-Zeichen für einen Herzinfarkt.
Drittens: Auf dem Nachweis verschiedener Blutwerte, die typischerweise bei einem Herzinfarkt erhöht sind.
Das hat sich inzwischen geändert: Heute kann ein EKG völlig unauffällig sein. Seit gut zwanzig Jahren genügt den Ärzten im Zusammenhang mit verschiedensten Beschwerden ein einziger(!) Blutwert zur Diagnose eines Herzinfarkts. „Troponin“ heißt dieser Zauberwert.
Troponin ist eine Substanz, die sich in allen Herzmuskelzellen befindet. Wenn das Herz unter Stress gerät, können einige Moleküle des Troponin durch die Zellwände hindurch in den Blutstrom geraten und dann in Blutproben nachgewiesen werden.
Ein Herzinfarkt ist natürlich ein Riesenstress für den Herzmuskel. Deshalb ist Troponin bei jedem Infarkt nachweisbar. Doch es gibt noch andere Stresszustände: Ein Anfall von Herzjagen etwa, kann ebenfalls eine kleine Menge Troponin aus den Herzmuskelzellen in die Blutbahn freisetzen. Bei einem Virusinfekt, der im Körper steckt, kann das Gleiche passieren. Vor allem: Alles, was Adrenalin mobilisiert, eine überfordernde körperliche Anstrengung, aber auch Angst, Panik und Erregung, können dazu führen, dass Troponin in Blutproben nachgewiesen wird und zur Diagnose eines Herzinfarkts beiträgt.
Deshalb ist bei jedem Herzinfarkt der Troponinwert erhöht, aber nicht jeder Nachweis von Troponin beweist im Umkehrschluss das Vorliegen eines Infarkts. In einem großen Krankenhaus in San Diego, Kalifornien hat man einmal bei 1.000 Patienten, die nacheinander der Notaufnahme zugeführt wurden, Troponin bestimmt. Bei gut 100 wurde Troponin nachgewiesen, bei 50 Patienten handelte es sich nachweislich nicht um einen Herzinfarkt.
In der Praxis unserer deutschen Krankenhäuser hingegen wird ein positiver Troponin-Nachweis in der Regel als Beweis eines Herzinfarkts gewertet. Andere womöglich in Frage kommende Ursachen einer Troponin-Erhöhung finden bei den Krankenhausärzten kaum oder keine Beachtung. Die Diagnose eines akuten Herzinfarkts zwingt nach heutigen Leitlinien zum sofortigen Katheter-Eingriff. Und der wird umgehend vollzogen.
Die Diagnose eines Herzinfarkts, die sich allein auf eine Troponin-Erhöhung stützt, wird im medizinischen Sprachgebrauch auch als „NSTEMI“ bezeichnet. Es ist davon auszugehen, dass es sich dabei in vielen Fällen nicht um einen tatsächlichen Herzinfarkt handelte. Nicht wenige dieser Patienten waren überhaupt gar nicht herzkrank.
Ich nenne den „NSTEMI“ einen virtuellen Herzinfarkt. Diese Form des Herzinfarkts ist nicht etwa eine unglückliche seltene Ausnahme. „NSTEMIS“ machen heute zwei Drittel(!) aller Herzinfarkte aus. In Zahlen: 2015 wurde ein akuter Herzinfarkt in Deutschland in 220.000 Fällen diagnostiziert. Davon waren circa 140.000 „NSTEMIS“. 140.000 „NSTEMIS“ hatten 140.000 sofortige Herzkatheter zur Folge, bei denen eine Unzahl an Stents gelegt wurden. Der virtuelle Herzinfarkt sorgt für eine gute Auslastung der Katheter-Labore.
Nach einer Statistik der AOK von 2013 kam es bei jedem 6. Katheter-Eingriff mit Stent zu Komplikationen wie größere Blutverluste, Nierenversagen und anderes mehr. 0,7% der Patienten verstarben innerhalb von 30 Tagen nach einem Katheter-Eingriff mit Ballon und Stent. Erschreckende Zahlen!
Nach diesem Eingriff ist der betroffene Patient ein Herzkranker! Das ist besonders unglücklich für die Patienten, deren Troponin-Erhöhung nichts mit einem Infarkt zu tun hatte oder die überhaupt nicht herzkrank sind. Der Stempel „Herzpatient“ verändert das gesamte Leben.